Am Anfang der Zeit war es so: Die Macht und die Liebe wurden als Zwillinge geboren. Ihre Mutter war die Weisheit, ihr Vater der Mut. Die Geschwister wuchsen glücklich miteinander auf, und ihre Eltern hatten Freude an ihnen.
Sie waren unzertrennlich und überall, wo sie hinkamen, schenkten sie Leben in Fülle. Sie überraschten die Menschen in ihren Häusern oder auf ihren Straßen und hinterließen glückliche Gesichter. Sie stifteten Frieden zwischen den Parteien und Völkern, sie verteilten die Güter dieser Welt gerecht, sie machten die Armen reich und die Reichen glücklicher. Die Macht und die Liebe waren ein Herz und eine Seele, und wo sie in den Häusern der Menschen Platz fanden, da änderte sich alles zum Guten. So wanderten die Macht und die Liebe gemeinsam durch die ganze Welt.
Eines Tages begegneten sie auf ihrem Weg dem Neid. Der Neid hatte sich fein herausgeputzt und sah recht stattlich aus. Sein Gewand glitzerte in der Sonne, und sein Geschmeide funkelte nur so im Licht. „Ich sehe dich stets im Schatten der Liebe“, sagte der Neid zur Macht. „So kannst du nie etwas werden. Geh mit mir! Da wirst du größer und stärker. Du wirst sehen: Die Menschen werden Dir die Hände und Füße küssen, sie werden Dir schmeicheln und Dir Opfer darbringen, sie werden Dir ihre Seele verkaufen, nur um Dich zu besitzen.“ Die Macht war wie geblendet. Sie dachte eine Weile nach. Dann sagte sie zur Liebe: „Der Neid hat recht. Laß uns uns für eine Zeit lang selbständig entwickeln. Keine ist mehr von der anderen abhängig, keine braucht mehr auf die andere Rücksicht nehmen. Ich werde derweil beim Neid in die Lehre gehen. Vielleicht treffen wir uns später einmal wieder.“
Ehe die Liebe antworten konnte, waren die Macht und der Neid schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Die Liebe sah noch, wie der Neid der Macht den Vortritt ließ. Ohnmächtig stand nun die Liebe am Wegrand und weinte.
Sie erlebte sich schwach und kraftlos ohne die Macht. Sie spürte, wie sie allein nicht leben konnte. Wie ein Schatten legte sich die Angst auf sie, die Angst sich zu verirren, zu verletzen und nicht verstanden zu werden. Die Macht fühlte sich unterdessen frei und ungebunden. Der Neid störte sie nicht, weil er immer einen Schritt zurückblieb und ihr den Vortritt ließ.
Die Macht merkte, wie sie größer und größer wurde. Aber mit der Größe wuchs auch ihre Kälte. Es gefiel ihr, wenn sich Menschen vor ihr verkrochen oder ihr alles opferten, um sich mit ihr zu verbinden. Sie bestieg einen großen Thron und ließ sich über die Köpfe der Menschen tragen. Sie genoß es, umjubelt zu werden. Die Macht hatte die Liebe bald vergessen. Sie umgab sich mit Waffen und Soldaten. Sie raubte den Armen den Frieden und vertrieb sie aus ihrer Heimat. Nur wer ihr die Seele verkaufte, durfte sich in ihrer Nähe aufhalten und sicher fühlen. Hinter ihr aber folgte stets der Neid.
In der Welt wurde nun alles anders. Die Kriege unter den Menschen nahmen an Heftigkeit zu. Die Liebe war zu ohnmächtig um sie zu verhindern. Viele erkannten sie auch nicht wieder und verwechselten sie mit dem Egoismus oder mit der Schwäche. Sie hatte nicht mehr die Kraft, das Böse in die Schranken zu verweisen. Habgier und Gleichgültigkeit wuchsen. Die Natur wurde ausgeplündert und zertreten. Es wurde dunkler und kälter in der Welt. Menschen und Tiere begannen zu frieren. Sie wurden krank und starben einsam dahin.
Da beschloß die Liebe, die Macht zu suchen, und sie machte sich auf, auch wenn der Weg sehr weit war. Eines Tages begegneten sie sich auf einer Kreuzung. Die Macht kam groß und gewaltig daher. Vor ihr und hinter ihr waren Wächter, bis unter die Zähne bewaffnet, die sie beschützen mußten. Die Macht sah dunkel aus. Sie war eingehüllt in einen dicken, schwarzen Mantel. Ihr Gesicht war kaum noch zu sehen. Der Mantel aber war über und über mit Orden behaftet. Rechts und links trug man ihrer Titel, damit die Menschen vor ihr in die Knie gingen.
Die Liebe nahm ihren ganzen Mut und ihre Weisheit zusammen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, und stellte sich der Macht in den Weg. „Du siehst unglücklich aus“, sagte die Liebe und blickte der Macht gerade ins Gesicht. „Früher hast Du gestrahlt und warst schön.“ „Geh mir aus dem Weg“, sagte die Macht, ich kenne dich nicht“. „Erinnerst Du Dich nicht“, sagte die Liebe, „wie wir miteinander durch die Welt zogen. Du trugst ein leichtes Kleid, Du konntest tanzen und springen, Du liefst mit mir zu den Menschen, und sie alle nahmen uns mit offenen Armen auf. Wir konnten Frieden stiften, und alle hatten alles gemeinsam. Du warst mit mir mächtig ohne Waffen. Du brauchtest Dich nicht zu schützen, und hinter Dir zog nicht der Neid. Laß uns weiter miteinander ziehen. Schick sie alle weg, die Dich jetzt umgeben und fernhalten von den Menschen und von mir. Auch ich brauche Dich, denn ohne dich bin ich schwach und ohnmächtig. Ohne Dich glauben mir die Menschen nicht. Sie lachen mich aus, verletzen und mißbrauchen mich.“
Während die Liebe diese und andere Worte sprach, wurde der Macht immer wärmer und weil auch die Macht ein Kind der Weisheit und des Mutes war, taute sie langsam auf und wurde kleiner und kleiner, bis sie wieder so groß war wie die Liebe. Da glitt der Mantel von ihrer Schulter, und die Orden zersprangen am Boden. Die Wächter fielen um, und die Titel flogen im Wind davon. Ehe sich die Liebe und Macht versahen, standen sie sich allein gegenüber. Da lachten sie einander zu und fielen sich in die Arme. Der Neid, der die Macht begleitet hatte, war gewichen, und von der Liebe war der Schatten der Angst geflohen.
Seither gehen sie wieder miteinander, die Liebe und die Macht. Und sie sind stark geworden, die beiden. Und wenn Du sie triffst, dann halte sie fest und warte, bis ich komme, damit ich mit euch ziehen kann.
nach Wilhelm Bruners, Pfarrer, ca. 1940